Der Mörder und die Gruft des Pharaos

Lesetipp zum 100. Jahrestag des Fundes des Grabs des Pharao Tutanchamun

Ägypten 1922. Obwohl das Tal der Könige für archäologisch erschöpft erklärt worden war, drängte der englische Archäologe Howard Carter seinen Finanzier Lord Carnarvon, die Grabungslizenz um ein weiteres, letztes Jahr zu verlängern. Aus gutem Grund: Unterhalb des Grabs des Pharao Ramses VI. hatte er eine Arbeitersiedlung freigelegt; gemäß Carter der Beweis, dass sich in unmittelbarer Nähe ein Königsgrab aus einer älteren Dynastie befinden musste. Es war der 4. November 1922, als der zwölfjährige Arbeiterjunge Hussein Abd el-Rassul durch Zufall eine steinige, rechteckige Fläche freilegte; die erste von 16 Stufen, die hinab in die Tiefe führten. Der Eingang zur Gruft Tutenchamuns.

Als Carter am 26. November 1922 im Beisein von Lord Carnarvon die Vorkammer betrat, bot sich ihm ein atemberaubender Anblick: Das Grab war weitestgehend von Grabräubern verschont geblieben und gefüllt mit kostbaren Beigaben, die die vergangenen dreieinhalb Jahrtausende fast unversehrt überstanden hatten. Die wahre Sensation aber offenbarte sich ihm erst, als er in der dahinterliegenden Grabkammer vor dem Sarkophag stand: Das königliche Grabsiegel war unversehrt.

Carter wusste, dass sein Fund einmalig war in der Geschichte der Archäologie. Nie zuvor war der Sarkophag eines Pharaos ungeöffnet vorgefunden worden; stets war das königliche Siegel bereits zerbrochen.

Der Grund hierfür ist denkbar einfach: Nicht alle Untertanen achteten ihren Herrscher oder dessen Totenruhe. Meist wurde ein Königsgrab schon nach kurzer Zeit geplündert und der Leichnam entwendet, geschändet oder ausgetauscht. Auch königstreue Diener zerstörten Grabsiegel, um die Mumien des Regenten oder seiner Gemahlin umzubetten, noch bevor die Grabräuber sie entehren konnten. Die Grabstätte des Pharao Amenophis II. wurde so zum Sammelgrab. In einer Seitenkammer befanden sich drei mumifizierte Kadaver; zwei von ihnen waren Frauen unterschiedlichen Alters, der Körper der jüngeren grauenhaft zugerichtet.

Was geschah mit der „Jüngeren Dame“?

Als ich 2007 den Roman Das Amarna-Grab schrieb, gab es in wissenschaftlichen Foren nur Vermutungen über die Identität der Jüngeren Dame. Spekulationen umrankten ihre Verletzungen, einige dunkle Stellen auf der ledrigen Haut, die Blutergüssen ähnelten, schürten Vermutungen ob eines gewaltsamen Todes. Ein ungelöster Mordfall, der perfekte Ausgangspunkt für einen Roman.

Das unter Einbindung von Ägyptologen und Wissenschaftlern recht akribisch recherchierte Werk ist ein irrwitziger Spagat zwischen Fakt und Fiktion. Es bedient sich für die Suche nach der Identität der Jüngeren Dame (und der damit verbundenen Lösung des Rätsels um ihren gewaltsamen Tod) fiktiver DNA-Analysen oben beschriebener Leichenfunde. Jedes dieser Ergebnisse wird in eine genetische Beziehung zum einbalsamierten Körper gesetzt, der 1922 in Tutenchamuns Sarkophag bestattet war. Denn allein dessen Identität gilt aufgrund des von Carter unversehrt vorgefundenen Grabsiegels als wissenschaftlich gesichert.

Das Amarna Grab wird am 6. Juli 2009 publiziert. Der Roman ist weder Sachbuch noch komplette Fiktion, die an ein riesiges Puzzle erinnernde Handlung gemeinhin an Wahrscheinlichkeiten ausgerichtet. Trocken listet der Text Imagination neben Fakten auf und zieht seine Schlüsse; eine Vorgehensweise, die dem Leser weitestgehend untersagt, Fakt und Fiktion klar voneinander zu trennen. In seiner Gesamtheit ist er pure Dichtung, die dennoch wahr erscheint. Ein zugegebenermaßen recht ungewöhnliches Buchprojekt, doch beeindruckend genug, dass sogar der Literaturkritiker Denis Scheck Handwerk und Konzeption des Romans seinen Respekt zollt.

Am 17. Februar 2010 gibt der damalige Generalsekretär der ägyptischen Altertümerverwaltung, Zawi Abass Hawass, den mittels DNA-Analyse erstellten Stammbaum Tutenchamuns der Weltöffentlichkeit bekannt. Seine Vorgehensweise und das Ergebnis stimmen dabei frappierend mit denen überein, die zuvor im „Amarna-Grab“ beschrieben wurden. Ein Umstand, der die Qualität der für Das Amarna-Grab durchgeführten, detaillierten Recherchearbeit andeutet. Selbst der gewaltsame Tod der Jüngeren Frau wird von Hawass bestätigt. Ein dreieinhalb Jahrtausende alter Mordfall, ungelöst in der realen Welt. In Das Amarna-Grab indes findet sich der Name des Mörders.

fidelis ad mortem: Das zufällige Schicksal des Bauern Hrodgar

Die bis zum 30. Juni auf BookRix stattfindende 163. Runde des Autorenwettbewerbs „Wortspiel“ hat das Thema „Schwarz und Weiß“. Für diesen Zeitraum habe ich den Text „Das zufällige Schicksal des Bauern Hrodgar“ freigeschaltet, der Teil der für 2022 geplanten Anthologie „fidelis ad mortem – Geschichten aus dem dritten Jahrtausend (Band II)“ sein wird.

Wer also vorab einen kleinen Einblick in das Buch haben möchte: Einfach auf den folgenden Link klicken und genießen. : )

„Ein gewaltiger, allegorischer Text!“

„Ha, erst mittelalterlicher Mord- und Totschlag, mit allerhand Zufällen gespickt, dann das herrliche Ende – für den Leser.“

„Ein wunderschöner Text, nahezu ein Meisterwerk!“

Season Of Glass – die langsame Wandlung von Fiktion zu Realität

Zeitgleich mit meiner Geburt zerfielen die Beatles: Nicht als Gruppe, sondern einzeln nahmen sie die Tonspuren der Lieder ihres gleichnamigen Doppelalbums auf, jenes Werk, das als das weiße Album in die Musikgeschichte einging. Als Musik meinen Leib und meine Seele einzunehmen begann, waren die Beatles längst Vergangenheit; ich hörte das Echo ihrer Kunst. Zu jung, um John Lennons Kompositionen gänzlich zu würdigen, traf mich die Nachricht von seinem gewaltsamen Tod dennoch, da der Tod, wie stets, etwas Unwiederbringliches erschafft.

Es war der 8. Dezember 1980, ich war zwölf Jahre alt.

Italien, 8. Dezember 2008. Ich sitze im Café Castello, innerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern der Burg San Leo und notiere mir Gedanken zu einer Kurzgeschichte, die an einem Literaturwettbewerb zum Thema „Du verbringst das Weihnachtsfest mit einer berühmten Persönlichkeit“ teilnehmen soll. Weihnachten, Happy XMas (War Is Over). Meine Gedanken kreisen um John Lennon. Da dessen Präsenz in der Gegenwart aufgrund der oben beschriebenen Umstände imaginär sein muss, überlege ich, die Handlung in den Kopf seines Mörders Mark David Chapman zu legen.

Am Abend schreibe ich den Text nieder, eine Geschichte über Schuld und Rache, Gnade und Vergebung, in der Zelle vermeintlich verhallende Dialoge, die auf Texten von John Lennon und Yoko Ono basieren. Der Titel des Textes wird Season Of Glass lauten, in Anlehnung an Yoko Onos gleichnamiges Foto von John Lennons blutbeschmierter Brille. Dem Ende der Geschichte ist geschuldet, dass das Handlungsjahr weit in der Zukunft liegt: 2022.

Im Moment ihrer Publikation – am 10. Dezember 2008 auf der Literaturplattform BookRix, am 1. September 2010 in der Anthologie Das Konzept – ist die Geschichte Season Of Glass noch komplett fiktiv, Veränderungen unwesentlicher Gegebenheiten sind der Dramaturgie oder dem Thema geschuldet. Tatsächlich wurde Chapman 2012 nach Boston verlegt, seine Anhörungen finden meist im August oder September statt und gänzlich vereinsamt ist er auch nicht. Aber mit jedem weiteren Jahr, das Mark David Chapman im Gefängnis verbrachte, näherte sich die 2022 spielende Handlung der Wirklichkeit.

chapman 2020

Am 19. August 2020 spricht Chapman vor dem Bewährungsausschuss die in der Fiktion von Lennon eingeforderte Entschuldigung an Yoko Ono aus, dennoch lehnt der Bewährungsausschuss sein Gnadengesuch ab, zum elften Mal. Damit sitzt John Lennons Mörder, wie von Season Of Glass zwölf Jahre zuvor postuliert, 2022 in seiner Zelle. Das imaginäre Gespräch mit jenem Mann, den er vor vierzig Jahren auf offener Straße ansprach und erschoss, kann sich nun zutragen wie damals im Café Castello ersonnen.

Es ist so lange her. War es in einem Traum? Es schien mir so wirklich. Ich ging die Straße entlang und meinte, die Bäume reden zu hören. Jemand sagte meinen Namen und es begann zu regnen. Zwei Geister verbanden sich zu einem seltsamen Tanz. Ein Dahinfließen von Klängen. Durch einen runden Spiegel hindurch. Ich meinte, die Musik zu fühlen, die meine Seele berührte. Fühlte etwas Warmes. Dann plötzlich war es kalt. (John Lennon – #9 Dream)

Die Entstehung von „Licht“

„Hundert Worte der Liebe waren der Preis für sein Leben.
Er versuchte sich zu erinnern, doch Leere erfüllte sein Herz.
Und so stürzte er in die Tiefen der Hölle hinab.“
(aus: „Licht“)

Der Text „Licht“ entstand für einen Drabble-Wettbewerb der Literaturplattform BookRix. Ein Drabble erzählt eine Geschichte in exakt einhundert Worten. Der Anfang des Textes beginnt mit dem Drabble „Die Unterwelt“, in welchem eben diese schreibtechnische Vorgabe als Metapher für die Erlösung des Protagonisten verwendet wird. Da bei dem Wettbewerb drei Drabbles eingereicht werden sollten, habe ich zwei weitere, in einem inhaltlichen Kontext stehende Handlungen hinzugefügt und sie mittels der dantesken Benennung als erster, zweiter und dritter Gesang in eine schlüssige Abfolge gebracht.

In der Anthologie Das Konzept sind die drei Gesänge allerdings nicht in der Reihenfolge ihrer Numerierung abgedruckt. Stattdessen beginnt „Licht“ mit dem mythologischen, zweiten Gesang („Die Unterwelt“), findet mit dem dritten („Die Rettung der Fischer“) seine Fortsetzung in der realen Welt und endet mit dem ersten („Die Befreiung der Liebe“) wieder in der Mythologie. Warum?

Es ist richtig, dass die abgedruckte Reihenfolge den tatsächlichen kreativen Prozess widergibt, denn der Erste Gesang wurde nach Fertigstellung des Zweiten Gesangs geschrieben. Ausschlaggebend allerdings waren zwei andere Gründe: Zum einen rufen die letzten Zeilen von „Die Befreiung der Liebe“ inhaltlich die ersten Zeilen aus „Die Unterwelt“ in Erinnerung. Die Handlung von „Licht“ bekommt dadurch etwas Zyklisches. Zum anderen wird damit die reale Erzählebene um die beiden Fischer in die Mitte der auf Anfang und Ende von „Licht“ verteilten, mythologischen Handlung gebettet. Der damit suggerierte, wie eine Sinuskurve anmutende, kontinuierliche Ebenenwechsel verstärkt den Eindruck eines wiederkehrenden Ereignisses.

Ebenfalls den einhundert Worten gewidmet ist die Tatsache, dass alle Sätze in „Licht“ aus je zehn Wörtern bestehen. Die für den Gesamttext geltende quantitative Vorgabe wird so auf ein niedrigeres Element heruntergebrochen. Die Satzstruktur erhält dadurch eine Metrik, die zwar zunächst steif wirkt, dank der archaischen Wortwahl jedoch wenig ins Gewicht fällt und dem Stil vielleicht sogar eine gewisse Authentizität verleiht.

„Licht“ jetzt auf BookRix lesen

Gnadengesuch von John Lennons Mörder zum 10. Mal abgewiesen

Die im Kurzgeschichtenband „Das Konzept“ veröffentlichte Geschichte „Season Of Glass“ aus dem Jahr 2008 erzählt ein fiktives Gespräch zwischen Mark David Chapman und John Lennon. Es ist eine Art innere Einkehr des Mörders, in der der vermeintliche Dialog aus Gedanken des Täters und Liedtexten des Musikers besteht. Geführt wird es in Chapmans Zelle am 25. Dezember 2022, zwei Wochen, bevor der Untersuchungsausschuss über sein Gnadengesuch abstimmt.

Dies ist Fiktion.

In der realen Welt hat gestern, am 23. August 2018, der Untersuchungsausschuss Chapmans zehntes Gnadengesuch abgelehnt. Erst 2020 kann das nächste Gesuch eingereicht werden. Wird auch dieses abgelehnt, erfüllt sich die Kondition, in der die Geschichte „Season Of Glass“ potenziell Wirklichkeit wird.  Oder, wie im Artikel „Relictio decoded: Spiel der Dimensionen“ beschrieben, die vierte, fiktive Dimension sich mit der dritten, realen vereint.

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Relictio decoded: einmal Hölle und zurück

Als Reminiszenz an das Mittelalter finden sich in Relictio einige Begriffe lateinischen und griechischen Ursprungs. Philipps Unendlich-Eck, das „Apeirogon“, zum Beispiel setzt sich aus den griechischen Wörtern „apeiros“ (unendlich) und „gonia“ (Winkel) zusammen, der Name des Planeten Kytheia aus „aletheia“ (Wahrheit) und „nekyia“ (Abstieg in die Totenwelt). In Anlehnung an die „canto“ genannten einhundert Gesänge der Göttlichen Komödie heißen die neun Kapitel des Epos „cantio“, was auf Latein neben „Gesang“ auch „Zauberspruch“ bedeutet. Der Name des Spiels „Relictio“ entstammt ebenfalls dem Lateinischen und kann mit „Zurücklassen“ übersetzt werden, ein Bild, das im Roman öfters auftaucht: Giordano Bruno nimmt hin, dass sein Leib verbrannt wird, vereint seine Seele sich doch auf diese Weise mit dem Quell des Seins, der Anima Mundi; Philipp Smiddlethorp verzichtet aus Wissensdurst auf seine primären körperlichen Bedürfnisse: Ernährung und Schlaf; Daniel Treaghus, seinerseits „Anima Mundi“ der Welt der Argoyl, lässt seine Schöpfung zurück, um sich vom Spiel zu lösen; Ciler Gor lässt seinen Körper auf Furogon zurück, damit seine Seele und sein Bewusstsein sich mit O’it, dem Quell der Macht, vereinen können. Die Vereinigung von „O’it“ und „Ciler“ ergibt, spiegelverkehrt gelesen, „Relictio“.

Figuren und Verweise

Brandon Hippolite, der gnädige (lateinisch: clemens) Literaturlehrer, der am Anfang des Romans mit Hilfe der Hausarbeit das Ende der Schüler einläutet, verdankt seinen Namen Ippolito Aldobrandini, Geburtsname von Papst Clemens VIII, jener Oberhirte aus Rom, der einst Giordano Brunos Urteil unterzeichnete. Passepartout, der junge Sprengmeister aus dem Cantio IV „Vultus Dei“, ist eine Huldigung des piemontesischen Soldaten Pietro Micca, Spitzname Passepartout. Die Schüler Philipp Smiddlethorp und Daniel Treaghus entspringen dem Philosophen Giordano Bruno. Smiddlethorp entdeckt das dreidimensionale Erinnerungsmodell, Treaghus benutzt es für sein Epos. Die beiden Freunde stellen die wissenschaftliche und schriftstellerische Seite des Nolaners dar; sie sind sozusagen Giordano Bruno.

Smiddlethorp, der seinen Nachnamen Loriots Sketch mit Evelyn Hamanns englischer TV-Ansage verdankt, teilt mit Giordano Bruno nicht nur Aussehen und Geburtsnamen (Filippo), sondern stirbt auch am selben Wochentag wie der Ketzer; der 17. Februar 1600 war ein Donnerstag, der Tag des ersten Kapitels ergibt sich durch Rückschluss. Daniel Treaghus‘ Name, im Spielforum dan_t geschrieben, verweist auf Dante Alighieri. In der Göttlichen Komödie begleitet der römische Dichter Vergil die Figur Dante, sozusagen das Avatar des realen Autors, durch neun kreisförmige Ebenen hinab ins eisige Herz der Unterwelt; in Relictio gibt Vergile dem Spieler dan_t die den Höllenkreisen entsprechenden Sünden als Themen für das Epos vor und führt ihn so mit jedem Kapitel/Cantio tiefer in die Hölle.

Hippolites Aufgabenstellung sieht Dante Alighieri und Giordano Bruno als vermeintliche Gegenpole, Ersterer für die katholische Kirche, Zweiterer gegen sie. Bei einem Gespräch mit dem Ordensbruder Alberto Casalboni aus Ravenna, der über Dante Alighieris Leben und Werk doziert und dem ich an dieser Stelle von ganzem Herzen für die dem Projekt Relictio gewidmete Zeit danken möchte, erfahre ich, dass kurz nach Dantes Tod der französische Kardinal Bertrand de Pouget, seinerzeit päpstlicher Legat in Norditalien, den Leichnam des post mortem zum Ketzer erklärten Poeten verbrennen wollte. Das Unterfangen scheiterte an einigen Franziskanermönchen, die Dantes Gebeine rechtzeitig aus dessen Sarg entfernten und in einem Versteck einmauerten. Giordano Bruno und Dante Alighieri – Brüder im Geiste. Wer hätte das gedacht? : )

Höllenkreise und Erinnerungsraum

„Durch mich gelanget zur Stadt der Schmerzen,
durch mich erreichet die ew’ge Qual,
durch mich geh’t hin zum verlor’nen Volke.“
(aus: Die göttliche Komödie, Dante Alighieri)

Die ersten 34 Gesänge von Dante Alighieris Komödie sind den neun Höllenkreisen gewidmet. Je tiefer man in die Unterwelt gelangt, desto größer ist die Schuld der dort zu ewigem Schmerz Verdammten. Es ist wohl der Lebenserfahrung des von den einstigen Gefährten aus Florenz vertriebenen Dante geschuldet, dass in der von ihm beschriebenen Hölle Verrat schwerer wiegt als Mord. Die Zahl Neun erlaubt, jedem Buchstaben des Erinnerungsmodells Giordano Brunos einen Höllenkreis zuzuordnen und so Dantes Inferno im Erinnerungsraum abzubilden. Im Roman geschieht diese Verknüpfung mit Hilfe der Anfangsbuchstaben der Planeten des jeweiligen Gesangs aus Treaghus‘ Epos.

B – Cantio I: Ungetaufte Kinder; Planet: Ba’ak
C – Cantio II: Wollüstige; Planet: Cylos
D – Cantio III: Schlemmer; Planet: Dedaia
E – Cantio IV: Verschwender; Planet: Enmor
F – Cantio V: Träge; Planet: Furogon
G – Cantio VI: Ketzer; Planet: Gàladh
H – Cantio VII: Mörder; Planet: Horoc
I – Cantio VIII: Diebe; Planet: Isiliån
K – Cantio IX: Verräter; Planet: Kytheia

Die Planetennamen zeichnet nicht nur der jeweilige Anfangsbuchstabe aus, sondern auch die Anzahl der Buchstaben, aus denen sie bestehen: Ba’ak (4), Cylos (5), Dedaia (6), Enmor (5), Furogon (7), Gàladh (6), Horoc (5), Isiliån (7), Kytheia (7). Die Summe aller Buchstaben beträgt 52, so wie die Lebensjahre des Giordano Bruno.

Relictio als Kombination seiner Elemente

Das einem syllogistischen Ansatz folgende Erkenntnismodell des Ramon Llull ist eine Konstruktion, die aus übereinander angebrachten und drehbaren, konzentrischen Scheiben unterschiedlichen Durchmessers besteht. Jede dieser Scheiben ist in neun Sektoren mit je einem Begriff unterteilt. Die Begriffe sind so gewählt, dass bei beliebiger Drehung der einzelnen Scheiben die Kombination der übereinander angezeigten Begriffe stets eine wahre Aussage ergibt.

Werden die Buchstaben A bis K der Kapitelüberschriften, die Phasen der Sucht, die Planeten des Epos und die aus den Höllenkreisen abgeleiteten Themenvorgaben des Epos in einem vierscheibigen Modell abgebildet, ergibt sich der Roman Relictio als eine von 6.561 Kombinationen. Jede Kombination erzählt ihre eigene Geschichte.

Aktueller Stand der Wissenschaft ist, dass unser Selbst von unserem Gehirn erzeugt wird und demnach mit dem Tod vergeht. Vielleicht liegt hierin der Glaube begründet an einen ewigen Schöpfergott, eine Anima Mundi, und der Wunsch des Menschen, sein Geist möge nach dem Tod einer ewigen Erinnerung angehören. – Aber das ist eine Geschichte, die im Folgeroman von Relictio erzählt wird.

Relictio decoded: der Weg der Erinnerung

Es wird gemunkelt, der Roman Relictio beinhalte versteckte, auf Zahlen basierende Codes. Ich habe mich ein wenig mit diesem Werk beschäftigt und kann sagen: Dem ist nicht so. Oder besser: nicht so ganz. Denn da wäre unter anderem das, was ich den “Weg der Erinnerung” nennen würde.

Der Ketzerei für schuldig befunden wird der Philosoph Giordano Bruno aus dem Kerker der Engelsburg in das Gefängnis Tor di Nona verlegt. Neun Tage später geleitet ihn ein Fackelzug von seinem Verließ zum Scheiterhaufen auf dem Marktplatz Campo de‘ Fiori.

Das Gefängnis Tor di Nona lag am Ufer des Tiber, der Engelsburg gegenüber. Gemäß dem Philosophen Anacleto Verrecchia führte Brunos letzter Weg entlang der Via del Banco di Santo Spirito, der Via dei Banchi Vecchi und der Via del Pellegrino. So zumindest die Namen im heutigen Rom. Am 17. Februar 1600 hatte dieser Weg wohl nur einen einzigen Namen: Porticus Maximae. Der Protagonist des Epilogs in Relictio, jener mysteriöse Schüler Brunos, beobachtet, wie der Verurteilte auf die Straße gebracht wird, und begibt sich daraufhin zur Hinrichtungsstätte auf dem Campo de‘ Fiori, jedoch über einen anderen Weg: die Piazza Navona.

Karte der Stadt Rom

Auf den Spuren von Brunos Schüler spaziere ich durch Rom, notiere auf dem Weg von Tor di Nona bis Campo de‘ Fiori Monumente und Straßennamen, und messe Entfernungen mittels meiner Schritte. Um zu erfahren, wie die Straßen im Jahr 1600 hießen, wende ich mich an das Stadtarchiv von Rom. Da finde mal einer in dem Wust von Dokumenten das, was er sucht! Kartenzeichner wurden im 16. Jahrhundert wohl nicht fürstlich entlohnt und taten alles andere als Karten zeichnen. Auf den wenigen vorliegenden Karten sind weniger die Straßen denn die Monumente betitelt. Also entscheide ich mich, eben diese zur Beschreibung des Wegs zu nutzen, den Brunos Schüler an jenem kalten Februarmorgen des Jahres 1600 wählt.

Diese geografischen Eckpunkte finden sich im Epos wieder, leicht erkennbar anhand der Anzahl der Schritte und oftmals mit einer ähnlichen Namensgebung:

  • Vom Stadttor “Porta Flaminia” aus gesehen, lag das Gefängnis Tor di Nona im neunten Turm der mittelalterlichen Befestigungsmauer Roms. 110 Schritte ging der Unbekannte ostwärts den Tiber entlang, bis er auf die Straße traf, die ihn zur südlich gelegenen Piazza Navona brachte. Im Epos hingegen steht der An’mon nach 110 Schritten am Fuße der Wendeltreppe, die den neunten Turm hinaufführt.
  • Die Piazza Navona hieß im 17. Jahrhundert Circus Agonalis, also Rennbahn der Spiele. Im Epos wird daraus die Ebene der Rätsel.
  • 395 Schritte sind es vom Betreten der Piazza Navona bis zur Statue des Pasquino, ein Ort, an dem vor Hunderten von Jahren Spottverse angebracht wurden, mittels derer unliebsame Wahrheiten zutage kamen. Eine Unsitte, auf die die um ihren Ruf bedachten Stadtväter übrigens die Todesstrafe verhängt hatten. Im Epos führt dieselbe Entfernung ins Zentrum des Inneren Tetraeders, von wo aus der An’mon seine Reise der Erkenntnis antritt.
  • Im Palazzo Cancellarie befindet sich die Corte Imperiale, der Gerichtshof der Katholischen Kirche. An dem entsprechenden fiktiven Ort, einem steinernen Wall, wird über das Schicksal Midors beschieden.

Diese Beispiele veranschaulichen, wie das Epos Schritt für Schritt Parallelen zum Geschehen im Epilog von Relictio aufzeigt. Folgende Entfernungen aus dem Epilog finden sich auch in den Gesängen des Epos:

  • 110 Schritte vom Gefängnis Tor di Nona den Tiber entlang (Neunter Turm, Cantio II – In den Katakomben von Iath Rinash’thir)
  • 210 Schritte zur Piazza di Tor Sanguinea (Turm des Bluts, Cantio IV – Vultus Dei)
  • 120 Schritte zur Piazza Navona/Circus Agonalis (Ebene der Rätsel, Cantio V – Das Rätsel)
  • 395 Schritte zur Piazza Pasquino/Statua di Pasquino (Mittelpunkt des Inneren Tetraeders, Cantio V – Das Rätsel)
  • 205 Schritte zum Palazzo Cancellarie/Corte Imperiale (Steinerner Wall, Cantio VII – An den Klippen von Diems End)
  • 90 Schritte zum Campo de‘ Fiori (Blumenmeer, Cantio VII – An den Klippen von Diems End)
  • 130 Schritte zum Teatro Pompeii/Scheiterhaufen (Pantheon, Cantio IX – Das Weltentor)

Wer möchte, kann bei seinem nächsten Aufenthalt in Rom den Weg gerne abschreiten. Im Verhältnis sollte ein jeder Wanderer eine übereinstimmende Anzahl von Schritten zählen. Nur die ersten 110 Schritte müssen als vorgegeben akzeptiert werden, denn niemand kennt den genauen Punkt, von dem aus Brunos Schüler zu Beginn des Epilogs das Gefängnis beobachtete. Obwohl 110 Schritt bedeutet, dass der Unbekannte weit abseits des Gefängisses stand, wählte ich diese Entfernung, denn so ergibt sich als Summe aller Schritte bis zum Scheiterhaufen die Zahl 1260.

1260° ist die Summe der Innenwinkel eines Nonagons/Neuneck, jene geometrische Grundfigur des Erkenntnismodells Ramon Llulls, aus der Giordano Bruno das quadratische Erinnerungsmodell abgeleitet hat.

Relictio decoded: Spiel der Dimensionen

Wie ein Schwamm ist Relictio getränkt mit Gedanken aus der Antike. Die griechischen Philosophen waren von der Perfektion der Geometrie so fasziniert, dass sie sie als Widerspiegelung universeller, göttlicher Strukturen ansahen. Die Gelehrten der frühen Renaissance, deren Wissen auf den Schriften des Mittelalters und der Antike fußte, sahen die Rolle der Geometrie kaum anders; Johannes Kepler maß seiner Feststellung, die Entfernung der Planeten zur Sonne stehe in Zusammenhang mit den Formen platonischer Körper, größere Bedeutung zu als seinen Erkenntnissen über die Bewegung der Planeten: ihrer ellipsenförmigen Bahn und der von der Entfernung zur Sonne abhängigen Geschwindigkeit.

Es ist also nur konsequent, in einem Roman über die Lehre Giordano Brunos der Geometrie eine grundsätzliche Bedeutung beizumessen. Die in der Antike erlebte Faszination, aus geometrischen Eigenschaften auf Wirklichkeit und Wahrheit zu schließen, ist Philipp Smiddlethorpes Motivation, Brunos Gedanken wortwörtlich in eine neue Dimension weiterzuentwickeln. Daniel Treaghus wiederum benutzt Philipps Erkenntnisse im Epos, womit die Geometrie in die Welt der Argoyl fließt.

Dimensionen und Welten

Relictio handelt von der Beziehung zwischen Schöpfer und Schöpfung; es ist ein Spiel der Dimensionen, mit verschiedenen Seins- und Komplexitätsebenen.

„Der Vorsatz, der ihn leitete, war nicht unmöglich, wenn auch übernatürlich. Er wollte einen Menschen erträumen; er wollte ihn bis in die kleinste Einzelheit erträumen und ihn der Wirklichkeit aufzwingen.“
(aus: Die kreisförmigen Ruinen, Jorge Luis Borges)

In der Kurzgeschichte „Die kreisförmigen Ruinen“ von Jorge Luis Borges erkennt ein Magier, Schöpfer eines seiner Imagination entspringenden Wesens, selbst eine ebensolche Schöpfung zu sein. In dem Text bewegt sich Borges in nur einer Welt; der Magier erträumt sich sozusagen seinen Nächsten. Der Schluss liegt nah, dass auch der Erschaffer des Magiers derselben Welt angehört: Ein ungenannter Hexer, der sich seinesgleichen erträumt.

Ein Traum, oder eine Illusion, kann derselben Dimension angehören, der er entspringt (z.B. „Die kreisförmigen Ruinen“ von Jorge Luis Borges), oder in einer untergeordneten angesiedelt sein (z.B. „Simulacron-3“ von Daniel Francis Galouye). Die im Roman Relictio verbundenen drei Welten sind auf beiden Ebenen angeordnet:

Die virtuelle Welt des Forums gehört aufrund derselben Zeitmessung der Dimension der realen an, während die in sich abgeschlossene, fiktive Welt des Epos ihnen untergeordnet ist. Die sich in Daniel Treaghus‘ Kopf abspielende Vereinigung Ciler Gors mit O’it vollendet den sich gegenseitig beeinflussenden Aufbau der drei Welten.

Befindet sich Treaghus, nach eigenem Ermessen, in der dritten Dimension, liegt die Welt der Argoyl in der nächstniedrigeren Dimension. Zum Aufspannen eines vierdimensionalen Raums bedarf es der zusätzlichen Zeitachse. In Anspielung auf die zentrale Bedeutung der Zeit für die Existenz der vierten Dimension ist der im Mittelpunkt der Welt liegende Planet Furogon einer Sanduhr nachempfunden. Zeit ist dort relativ, der Weg vom Rand des inneren Tetraeders hin zum Mittelpunkt Furogons und zurück genau ein Leben lang.

Von der Endlichkeit der Welt

Der Mensch kann einen vieldimensionalen Raum berechnen, ihn sich aber nicht vorstellen. Seine Vorstellungskraft ist begrenzt, die von ihm erschaffene, fiktive Welt somit endlich.  Dem Geist des Menschen sind Grenzen gesetzt, so wie der Evolution, der der Mensch entspringt und deren kreatives Schaffen universell gültigen Gesetzen unterliegt. Das Element „Mensch“ erbt sozusagen Fähigkeiten und Grenzen des übergeordneten, komplexeren Systems „Natur“. Ebene um Ebene, Dimension um Dimension aufwärts schreitend nehmen die Grenzen ab und die Komplexität zu, bis hin zur obersten: Giordano Brunos Ursprung allen Seins – das Eine.

„Das unendlich Kreative schafft Unendliches, das endlich Kreative Endliches. Ein Universum, das einen Mittelpunkt hat, ist endlich und somit geschaffen von Menschenhand. Diesen Beweis hat Giordano Bruno geführt und hierfür ist er hingerichtet worden, von einer Handvoll alter Männer, deren Grundfeste seine Lehre erschütterte.“
(aus: Relictio)

Punkt vor Strich

Philipp Smiddlethorp stellt die Ordnung und reziproke Beziehung der Dimensionen anhand geometrischer Simplizes dar:

0. Dimension
0-Simplex
Punkt

1. Dimension
1-Simplex
Strecke

2. Dimension
2-Simplex
Dreieck

3. Dimension
3-Simplex
Tetraeder

4. Dimension
4-Simplex
Pentachoron

Kann die simpelste geometrische Figur den höchsten Komplexitätsgrad haben? Gemäß Giordano Bruno birgt „das Eine“ das Potential, die Unendlichkeit mit beliebig geformter Materie zu füllen. Selbiges trifft auf den Punkt zu: Er besitzt das Potential, jede beliebige geometrische Figur zu erzeugen, und hat so gesehen die größtmögliche Komplexität.

Smiddlethorps Logik folgend befindet sich der jeweilige Schöpfer einer Welt in der nächstübergeordneten Dimension. Befindet Smiddlethorp sich in einem dreidimensionalen Raum, muss es über ihm theoretisch drei Schöpfer geben: einen in der zweidimensionalen Fläche, einen auf der eindimensionalen Linie und einen im nulldimensionalen Punkt. Der Roman Relictio bedient sich Giordano Brunos namenlosen Schülers aus dem Epilog, um Smiddlethorps Ansatz generelle Gültigkeit zu verleihen:

  • das 4-Simplex stellt die Welt der Argoyl im Epos dar,
  • das 3-Simplex die Welt des Daniel Treaghus und des Philipp Smiddlethorp,
  • das 2-Simplex die Welt des namenlosen Schülers aus dem Epilog,
  • das 1-Simplex die Welt, aus der das Buch Relictio entspringt,
  • das 0-Simplex den Ursprung, das Eine.

Das dreidimensionale Erinnerungsmodell des Philipp Smiddlethorp

Das Erinnerungsmodell des Giordano Bruno besteht aus 9 Buchstaben, die auf einer quadratischen Fläche angeordnet sind. Smiddlethorp überführt es in ein dreidimensionales Modell, indem er ein 3-Simplex (Buchstaben A-D) mit seinem dualen Selbst (Buchstaben F-I) und dem Mittelpunkt (Buchstabe K) der beiden Körper kombiniert. Dasselbe Ergebnis wird erzielt, wenn ein 4-Simplex (Buchstaben F-K) an die Stelle des dualen Selbst gesetzt wird.

Die Mittelpunkte des inneren und des äußeren Tetraeders befinden sich an denselben Raumkoordinaten. Deswegen befindet sich exakt dort, im Mittelpunkt K, der Planet Furogon mit dem Vultus Dei, dem Tor zum Schöpfer, wo Gerol die sterblichen Überreste Ciler Gors findet.

Smiddletorps Lösung hat einige interessante Eigenschaften:

  • der Tetraeder ist der einzige geometrische Körper mit einem dualen Selbst, was dem Modell die von Smiddlethorp geforderte Einzigartigkeit verleiht;
  • die Kombination von 3-Simplex und 4-Simplex veranschaulicht das Verhältnis zwischen Treaghus und der in der nächstunteren Dimension gelegenen Welt der Argoyl;
  • das duale Selbst – und somit die Welt der Argoyl – ist ein endlicher Raum, eine Wahrheit, die Selwyc anhand des Vultus Dei erkennt;
  • das duale Selbst liegt gespiegelt im Tetraeder, weswegen die Inschrift „Relictio“ des Vultus Dei ebenfalls gespiegelt ist;
  • der Mittelpunkt führt den Buchstaben K, dem im Roman das Kapitel „Metamorphose“ gewidmet ist, eine Umwandlung, die auch Ciler Gor und Treaghus widerfahren.

Die Bibliothek, aus der Smiddlethorp die Bücher entleiht, ist Giordano Brunos Zeichnung des Erinnerungsmodells nachempfunden: Sie hat acht im Quadrat stehende Pfeiler und wie das Pantheon in Rom eine zentrale Öffnung in der Decke, durch die das Licht einfällt und den Raum erhellt (8+1=9). Smiddlethorpes knarzende Schritte in der Bibliothek verstummen in dem Moment, als er – wie die anderen Besucher dieses Ortes – die in den von ihm gelesenen Büchern festgehaltene Wahrheit verinnerlicht und in Harmonie mit diesem Ort tritt.

Relictio decoded: Aufbau

Am Anfang war das Spiel

Des Öfteren ist es beim Spielen nützlich, nicht den absoluten, sondern den relativen Vorteil zu suchen. Dies kann destruktive Spielzüge attraktiv machen, frei nach dem Motto: Du wirst angegriffen? Wunderbar! Mach dich aus dem Staub und schau, dass der andere beim Hinterherlaufen mehr verliert als du. Wenn alles klappt, wird er sauer, greift dich nochmal an und verliert noch mehr. : )

November 2005. Ich werde eingeladen, am Online-Spiel Ogame teilzunehmen. Planeten, Bergwerke, Rohstoffe, Abwehranlagen, Raumschiffe, eine Vielzahl ungleich stärkerer Gegner. Die effizienteste Strategie ist schnell klar: Angreifen wie ein Stier und die eigenen Kühe nicht von anderen melken lassen. Das Problem: Es gibt keine Pausen, man muss eigentlich durchgehend spielen, Tag und Nacht.

Es dauert keine 24 Stunden und ein paar destruktive Spielzüge meinerseits, angereichert mit einer üppigen Dosis Sarkasmus, werden zum meistgelesenen Thread im Spielforum. Die im Roman „Relictio“ beschriebenen Erlebnisse des Schülers Daniel Treaghus – der Krieg gegen die größte Allianz des Spiels, die Reaktionen im Forum, die Spielzüge, das Epos über die Suche nach dem steinernen Antlitz – beruhen auf wahren Begebenheiten.

Zwei Wochen lang – derselbe Zeitraum wie im Roman – bleibt der Thread mit den seltsamen Kriegsberichten wie am oberen Browserrand angetackert auf Platz #1 des Forums. Hunderte Spieler lesen, schreiben, amüsieren und zoffen sich, während ich mich leicht übermüdet darauf konzentriere, im Spiel keine Niederlagen einzufahren und meine Siege in eine halbwegs zusammenhängende, phantastische Geschichte über die Suche nach einem göttlichen Stein zu kleiden. Mit Veröffentlichung des letzten Kapitels verschenke ich meinen Account. Der Thread verschwindet nach und nach in den Tiefen der Festplatte des Forum-Servers. Es bleibt allein die Erinnerung.

Handlung im Erinnerungsraum

2011 beginne ich mit der Recherche zu „Relictio“, ein Werk über Schöpfer und Schöpfung, thematisch ein würdiger Nachfolger des Romans „Das Amarna-Grab“ und dem darin aufgegriffenen Thema Religion. Während das Amarna-Grab zur Zeit Echnatons und Jesu Christi spielt, treffen in Relictio frühe Renaissance und spätes Mittelalter in Form der Gedanken und Werke des Philosophen Giordano Bruno und des Poeten Dante Alighieri aufeinander.

Erkenntnismodell von Ramon Llull, aus: Ars Magna

Der Zahl Neun kommt bei Aufbau und Inhalt des Romans eine besondere Bedeutung zu. Neun sind die Höllenkreise in Dantes Göttlicher Komödie, neun die Kreissektoren mit den Grundtugenden in Ramon Llulls Erkenntnismodell aus der „Ars Magna“, neun die Buchstaben in Giordano Brunos Erinnerungsmodell aus der „Ars Memoriae“. Ich beschließe, die Handlung des Epos über das steinerne Antlitz im Roman zu verwenden und es in neun Kapitel zu gliedern, anhand derer der nichtsahnende Treaghus Kreis um Kreis tiefer in Dantes zunehmend frostigere Hölle hinabsteigt.

Erinnerungsmodell von Giordano Bruno, aus: Ars Memoriae

Treaghus‘ Niedergang, wie auch der seines Freundes Philipp Smiddlethorp, ist nicht spiritueller, sondern körperlicher Natur: Mangel an Schlaf kann Wahnvorstellungen hervorrufen. Wie Giordano Bruno in seinem Werk „De Vinculis in Genere“ schreibt, erschafft der Mensch sich die eigene Hölle. – Immerwährende Qualen als eine Art unbeabsichtigter Schöpfungsakt. : )

Die Zeilen des Nolaners über die Hölle schickt mir Dr. Manuel Mertens vom Zentrum für Wissenschaftsgeschichte der Universität Gent bei einem Schriftwechsel, für den ich mich an dieser Stelle noch einmal herzlich bedanke. Die Übersetzung des Auszugs aus „De Vinculis in Genere“ findet sich gegen Ende des Romans im Abschnitt „Das Pergament“.

In Einklang mit Brunos Erinnerungsmodell ist der Roman Relictio in neun Kapitel unterteilt, denen jeweils ein Buchstabe von B bis K zugeordnet ist. Im Rückschluss bedeutet die Verwendung der Buchstaben, dass die gesamte Handlung des Romans in einem Erinnerungsraum stattfindet und selbst eine Erinnerung ist.

Um wessen Erinnerungen handelt es sich? – Neben den Buchstaben B bis K bedient sich der Aufbau des Romans des Buchstaben A. Diesen Buchstaben setzt Ramon Llull in den Mittelpunkt seines Erkenntnismodells als Symbol für „den Schöpfer“. Die Verwendung des Buchstaben A zur Kennzeichnung des Epilogs Relictios ist ein Hinweis, dass der dortige Protagonist, jener namenlose Schüler des Giordano Bruno, der in Rom der Hinrichtung seines Meisters beiwohnt, der Ursprung der Geschichte von Daniel Treaghus und Philipp Smiddlethorp ist. Für den Leser von Relictio ist diese Information zugegebenermaßen wenig gewichtig, relevant wird sie hingegen als Schnittstelle zu einem anderen Roman.

Sucht als Handlungsmotivation

Giordano Brunos Ars Memoriae lehrt, Erinnerungen innerhalb von immaginären Szenen zu kodifizieren. Informationen können so in fiktiven Gesprächen, Bildern und Handlungsabläufen im Gedächtnis gespeichert und leicht wieder abgerufen werden. Es verwundert kaum, dass der Nolaner, Meister in der Kunst der Erinnerung, einige seiner Bücher als Ansammlung von Szenen verfasst hat, in denen Figuren miteinander debattieren.

Auch innerhalb des Erinnerungsmodells Relictio haben die Figuren die Funktion, Informationen zu kodifizieren. Die gegenüber eigenen körperlichen Bedürfnissen unbarmherzige, zielgerichtete Vorgehensweise der beiden Freunde Daniel Treaghus und Philipp Smiddlethorp – der eine bei der Suche nach Wahrheit, der andere beim Spiel Relictio – nimmt hierbei Züge einer Sucht an: Beide verlieren die Kontrolle über eine Situation, die sie komplett einnimmt und zu deren Fortbestehen sie trotz selbstzerstörerischer Auswirkungen aktiv beitragen.

Die Kapitelüberschriften in deutscher und lateinischer Sprache sind von mir  festgelegten Phasen der Sucht gewidmet, die gleichsam den Pfad der Erkenntnis von Giordano Brunos namenlosen Schüler aus dem Epilog markieren:

Erinnerungsmodell als Romanaufbau, aus: Relictio

B – Suche – Quaestio
C – Kameradschaft – Commilitium
D – Schöpfung – Creatio
E – Ruhm – Gloria
F – Abhängigkeit – Obsequium
G – Leugnung – Negatio
H – Leid – Dolor
I – Errettung – Salvatio
K – Verwandlung – Metamorphosis

Relictio decoded: der letzte Ketzer

jnbookrix2015

Wir schreiben das 16. Jahrhundert. Europa brennt. Die Macht der römischen Kirche zerbricht Stück für Stück an den vielerorts aufkeimenden reformatorischen Gedanken. Wie eine verwundete Bestie beißt sie um sich, denunziert, foltert, mordet im Widerschein eines in Flammen stehenden Kreuzes, rottet Andersartige und Andersdenkende aus, um ihre auf Qualen fußende Lehre von Liebe und Vergebung mit all den für den Klerus vorteilhaften Herleitungen rein zu halten. Die Lektüre einer Vielzahl philosophischer Werke der Antike und des Mittelalters ist verboten. Wer der kirchlichen Lehre widersprechende Gedanken äußert, wird an die heilige Inquisition übergeben und der Ketzerei angeklagt.

Bei weniger schwerwiegenden Anklagen, wie im Fall des Gelehrten Galileo Galilei, kann der Inhaftierte vorgeben, seinen Worten und Gedanken abzuschwören, und so dem Kerker entfliehen. Wem die Hinrichtung indes sicher ist, hilft solch opportunistisches Verhalten kaum; durch das Abschwören kann er mit den wohlgekleideten Richtern einzig einen kurzen, schmerzlosen Tod aushandeln.

Giordano Bruno, 1548 nahe Neapel im Örtchen Nola geboren, ein scharfzüngiger, der Göttin des Wissens Minerva verfallener und wegen Mordes gesuchter Mönch, schert sich nicht um Verbote. Sein Wesen giert nach den philosophischen und naturwissenschaftlichen Schriften, die von der Antike bis zu jener, seiner Gegenwart des wiedergeborenen Geistes reichen, der Renaissance. Brunos Überzeugung nach und entgegen der damaligen Lehre der Kirche hat das Universum unendliche Ausmaße und somit keinen Mittelpunkt. Mit Hilfe der Logik will er die Wahrheit über das Universum ergründen, die hinter allem Messbaren liegt: der Quell der Schöpfung. – Gott.

Um das Wissen in all seinen Einzelheiten im Gedächtnis zu speichern, entwickelt und perfektioniert Giordano Bruno eine Kunst der Erinnerung, die Ars Memoriae. Seine Fähigkeit, den Inhalt einer Vielzahl bekannter Schriften wortgenau wiederzugeben, begründet einen Ruf, der Bruno in seinem Leben, das Flucht und Suche zugleich ist, Gast am Hof des Adels und Dozent an Universitäten werden lässt.

Schließlich wird Giordano Bruno in Venedig verraten und verbringt die folgenden acht Jahre in den Kerkern der heiligen Inquisition. Bei den wenigen, von den Richtern in diesem langen Zeitraum angesetzten Prozesstagen stellt er wiederholt das oberflächliche Wissen seiner Ankläger bloß. In der Dunkelheit der Gemäuer der Engelsburg verliert er sein Augenlicht. Seiner Geliebten, Minerva, bleibt er in all den Jahren treu und schwört trotz des Drängens der Richter nicht von seinem Glauben ab. Am Tag der Urteilsverkündung entgegnet er ihnen: „Wohl zittert ihr, da ihr das Urteil über mich sprecht, mehr als ich, der es vernimmt“.

Giordano Bruno wird der Ketzerei für schuldig befunden, der Stadt Rom übergeben und am Morgen des 17. Februar 1600 zu frühester Stunde bei lebendigem Leib auf dem Campo de‘ Fiori in Rom verbrannt. Möglichst wenige Menschen sollen der Hinrichtung beiwohnen und den Verurteilten sehen; die Arme ausgerenkt, das Fleisch an mancher Stelle bis auf die Knochen abgeschabt. Eine hölzerne Maulklammer soll verhindern, dass Bruno ein weiteres Mal dem Herrn lästert. Ungläubig werden die Anwesenden Zeugen, dass kein einziger Laut über die Lippen des verhassten Ketzers kommt, während die Flammen hochschlagen und seinen nackten, von der Folter geschundenen Körper verzehren. – Der Philosoph aus Nola wird der letzte bei lebendigem Leib verbrannte Ketzer sein.

Seitdem ich mich im Rahmen des Romans Relictio mit dem Leben und der Lehre des Nolaners Giordano Bruno beschäftigt habe, ist der 17. Februar für mich ein Tag der Einkehr. Es wäre sicherlich ein fragwürdiges Gebaren, im Andenken an einen auf dem Scheiterhaufen hingerichteten Ketzer eine Kerze aufzustellen. Ich belasse es bei der Erinnerung an seine Schriften und Gedanken über Metaphysik und Logik.

Der naturphilosophische Ansatz Giordano Brunos, Gott – sprich der Ursprung allen Seins oder das Eine, wie Bruno ihn nennt – sei in jedem Teil der Schöpfung präsent, klingt selbst für Atheisten nachvollziehbar, ersetzt man Gott oder das Eine schlicht mit dem Begriff Energie.

Unter Wissenschaftlern besteht heutzutage größtenteils Konsens darüber, das Universum sei mittels eines Urknalls entstanden. Aber wurde es erschaffen? Ich bin nicht abgeneigt, der altertümlich anmutenden Wortwahl zuzustimmen, denn die Entstehung und Entwicklung des Universums unterliegt universellen physikalischen Regeln, die bereits im Moment des Urknalls bestand haben und dem Universum eine sonst wie geartete Form und Struktur vorgeben.

Noch nachvollziehbarer wird dieser Gedanke anhand der Theorie des Quantum Bounce: Das Universum dehnt sich zunächst aus, zieht sich dann wieder zusammen, komprimiert alle Materie in einem Punkt, um dann, ab einer maximalen Dichte, wieder auseinanderzustreben. Diese Theorie eines sich stetig wiederholenden Urknalls impliziert, dass die physikalischen Regeln, denen sowohl das vergangene als auch das neue Universum unterliegen, unverändert bleiben. Ein aus einem Ursprung oder dem Einen entstehendes Universum wird also nach dessen Vorgaben geformt. Nichts anderes sagt Giordano Bruno über die Formgebung der Materie.

Liest man Giordano Brunos Werk De l’infinito universo et mondi (Über das Unendliche, das Universum und die Welten) findet man eine einfache Frage, auf die Urknall und Quantum Bounce nicht zu antworten wissen: Wo befindet sich unser Universum? – Aus diesem einfachen Gedanken leitet Giordano Bruno die Notwendigkeit eines unendlichen Raums ab, der das Potential hat, mit Materie gefüllt zu werden, denn das Universum kann sich schwerlich im Nichts befinden.

In Relictio werden Aussagen des Philosophen aus Nola in verschiedenster Weise aufgegriffen. Die auf der Zahl Neun basierte Kapitelstruktur des Romans zum Beispiel folgt einem Zusammenspiel aus Dante Alighieris Inferno und Giordano Brunos Ars Memoriae. Ein Protagonist des Romans wiederum fügt den räumlichen Überlegungen des Nolaners die Zeitkomponente hinzu: Was war vor der Entstehung des Universums? – Er findet eine ihn befriedigende Lösung, in dem er jenem Abschnitt des Zahlenstrahls zwischen minus Unendlich und dem ersten Urknall eine Variable zuordnet und diese unbekannte mathematische Größe Gott nennt.

Wir schreiben das 21. Jahrhundert. Europa glimmt. Kulturen zerfließen und vermengen sich. Im kalten Antlitz eines verkohlten Kreuzes werden Andersartige und Andersdenkende gemobbt und eine zweifelhafte Vergangenheit idealisiert, in der selbst ein des Abschlachtens Tausender Abtrünniger verantwortlicher Bischof zum Papst gemacht und nach seinem Tod heiliggesprochen wurde. Ein Teil der Kirche, in der ich viele Jahre zuvor zu dröhnenden Orgelklängen vor leeren Bänken ministriert habe, ist heute eine Jugendbibliothek. Betrete ich sie, überkommt mich manchmal ein Gefühl der Melancholie. Am 17. Februar aber erscheint mir alles in einem anderen, hell auflodernden Licht der Vorhersehung: „Wohl zittert ihr, da ihr das Urteil über mich sprecht, mehr als ich, der es vernimmt.“